Mitten in der Fußgängerzone steht ein Pavillon. Menschen lesen Geschichten, Menschen erzählen Geschichten.
(Bild: Andi Weiland | Bayreuth blättert)
Geht das? In Bayreuth? Menschen kommen einfach zu einem wildfremden Mann, setzen sich mit ihm in einen Pavillon und erzählen ihm eine ganz persönliche Geschichte?
Und wie das geht!
Sage und schreibe acht Geschichten hat Martin Ellrodt für seinen Erzählkiosk bei Bayreuth blättert 2022 gesammelt. Und das Beste: Wir dürfen sie hier alle abdrucken. Vielen Dank, lieber Martin, für dein zauberhaftes Mitwirken!
Und hier sind die Geschichten:
Geschichten, gesammelt von Passanten und Passantinnen in Bayreuth am 6. August 2022 im Rahmen des Festivals „Bayreuth blättert“ (Ehrenhof, Fußgängerzone)
Poltergeist
Ich war neulich in Edinburgh und habe eine Tour durch die Katakomben gebucht. Weil ich am Ende nicht alleine durch die dunklen Gassen zum Hostel laufen wollte, habe ich mir eine Tour am Nachmittag ausgesucht. Als sie dann aber stattfinden sollte, war ich die einzige Anmeldung, und sie haben mir stattdessen eine Tour am Abend angeboten, mit dem Greyfriars Friedhof als Bonus, ohne Aufpreis. Na ja, da bin ich dann halt doch am Abend hin.
In den Katakomben haben sie natürlich nichts ausgelassen, um uns zu erschrecken. Leute, die plöKlich aus dem Dunkel hervorspringen, plöKlich das Licht ausmachen und so weiter. Wir waren alle angespannt und nervös.
Auf dem Friedhof waren wir dann unter anderm auch im Mausoleum eines Mannes, der im 17. Jahrhundert ganz viele Presbyterianer nahe beim Friedhof gefangen gehalten und auch getötet hat. Seit er dort begraben liegt, geht er als Poltergeist auf dem Friedhof um. Er schubst die Menschen, lacht dabei dreckig und kraKt sie auch gerne. Vor allem das KraKen fand ich sehr merkwürdig für einen Poltergeist. Nach der Tour bin ich dann wohlbehalten im Hostel angekommen und schlafen gegangen.
Um so größer der Schreck und die Verwunderung am nächsten Morgen, als ich auf meinem linken Unterarm drei lange, blutige Kratzer entdeckte.
Knäckebrot
Wir waren in Hamburg im Tierpark Hagenbeck, und dort auch im Streichelzoo. Und während wir dort die Ziegen angucken und streicheln, sehe ich direkt neben uns eine Frau, die die Ziegen mit Knäckebrot füttert. Dabei sind da extra überall Schilder am Zaun: „Bitte die Tiere nicht mit Brot füttern!“. Da habe ich die Frau angesprochen und auf das Schild hingewiesen. Sie guckt mich ganz streng an und sagt: „Das ist doch kein Brot, das ist Knäckebrot!“ Dann hat sie sich wieder den Ziegen zugewandt und mich sprachlos stehen lassen.
Erster Kuss
Ich war dreizehn. Damals bin ich mit Freunden, so einer Clique, am Freitag immer zum Volleyballtraining im Turnerheim gegangen. Unsere Fahrräder hatten wir dabei, aber oft sind wir zusammen gelaufen und haben die Fahrräder geschoben.
Das Training war gemischt, also Jungen und Mädchen zusammen. Ja, und da haben sich dann zu einem Mädchen aus unserer Clique zarte Bande ergeben, also mit mir und ihr. Da haben wir dann geschaut, dass unser gemeinsamer Heimweg immer länger und auch umständlicher wurde, um mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Irgendwann dann habe ich meinen Mut zusammengenommen und meinen Arm um sie gelegt. Also, mit links das Fahrrad geschoben, den rechten Arm um sie gelegt, und sie hatte ihr Fahrrad rechts. Und sie hat dann ihren linken Arm um mich gelegt. Ach ja.
So sind wir wochenlang zusammen nach Hause gelaufen, Arm in Arm. Und dann habe ich mir gedacht, dass es jetzt vielleicht Zeit wäre für einen Kuss, meinen ersten Kuss. Ich wusste über das Küssen zwei wichtige Dinge: dass sich die Lippen treffen und die Augen dabei geschlossen sein müssen. Das hat mich ziemlich ins Grübeln gebracht: wie soll ich denn die Lippen treffen, wenn die Augen zu sind? Und umgekehrt, wenn ich die Augen dabei offen habe, wie sieht das denn aus, das ist doch peinlich!
So habe ich immer und immer überlegt, wie das gehen soll, so lange, bis es Frühling wurde und wir nach dem Training nicht mehr direkt nach Hause, sondern z.B. ins Freibad sind. Die Clique hat sich dann auch irgendwie aufgelöst, und mein erster Kuss hat so nicht stattgefunden.
Später sind wir auf dem Gymnasium Klassenkameraden und richtig gute Freunde geworden. Viel später habe ich ihr dann von meiner Zwickmühle erzählt, und wir haben gemeinsam drüber gelacht.
Schwarzwaldmärchen
Es gab eine Zeit, da musste ich sechs Wochen am Stück im Krankenhaus verbringen, in einer Spezialklinik im Schwarzwald, weit weg von meiner Familie. Ich habe sie sehr vermisst, meine Frau, meine Tochter, die in jenen Tagen in die erste Klasse Grundschule ging. Gleich am Anfang meines Aufenthaltes, bei einem Spaziergang um die Klinik herum, hatte ich eine Idee: ich würde meiner Tochter eine Geschichte schreiben, handschriftlich, um ihr beim Lesen lernen zu helfen.
Und so habe ich mir das Märchen vom Schwarzwaldmurrle ausgedacht, jeden Tag bei meinen Spaziergängen ein Stück, dann aufgeschrieben und per Briefpost an meine Tochter geschickt. Jeden Tag einen Brief, bis zum Ende meines Aufenthaltes, und dann war auch die Geschichte fertig.
Später habe ich die Geschichte abtippen lassen: es sind sechzig Seiten geworden! Meine Tochter, längst erwachsen, hat sie heute noch.
Hip Hop
Es war einmal ein kleiner Junge. Seine Mama war ein großer Fan von HipHop und hatte eine riesige Sammlung mit Audiokassetten und CDs. Zu seinem dritten Geburtstag hat der Junge dann einen eigenen Kassettenrecorder bekommen. Und von dem Tag an hat er jeden Tag HipHop gehört, von Mamas Kassetten, und dazu getanzt und gesungen. Jahrelang. Alle, die das zu hören bekommen haben, haben gesagt: „Du hast eine schöne Stimme, mach was draus!“ Aber getraut hat er sich lange nicht. Bis ein Freund von ihm, als der Junge schon 18 war, gesagt hat, er soll doch mal zum Rap-Friday im Jugendzentrum mitgehen. Und da hat er sich dann doch getraut, sich auf die Bühne gestellt und zu einem Beat improvisiert, einfach so. Das Publikum war begeistert, es gab Standing Ovations. Das war der Anfang – und der Grund, warum ich heute Abend in dieser Stadt auftrete.
Drohung
Ich bin in einer Kleinstadt in Nordhessen groß geworden. In unserem Haus lebte die Großfamilie, Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Onkel usw. Meine Freundinnen lebten in der gleichen Gasse, und das Leben fand draußen statt. Wenn ich dann heim wollte, musste ich unten klingeln und warten, bis oben die Uroma rausgeschaut hat. Weil ich damals ganz oft so Strumpfhosen aus Kunstfaser anhatte und die ganz schnell gerutscht sind, musste ich öfter mal den Rock anheben und die Strumpfhosen hochziehen.
Wenn mich nun meine Uroma dabei erwischte, während ich auf sie wartete, rief sie immer von oben: „Du Gassenkind, es kommt mal einer und steckt Dich in den Sack!“ Und ich bin immer erschrocken und habe mir gedacht: „Und was macht der dann mir mir, wenn er mich in den Sack gesteckt hat?“
Eines Tages bin ich mit meinem Puppenwagen raus und damit durchs Tor in der Stadtmauer gefahren. Da saßen auf einer Bank vier Männer, Arbeitsmigranten aus der Türkei, und einer von ihnen, ich weiß heute noch genau, wie er aussieht, mit einem Schnurrbart aus schrecklich langen Haaren, die bis über die Lippen reichten, stand auf und sprach mich an. Ich habe ihn gar nicht verstanden , dachte aber sofort: „Das ist der mit dem Sack, der will mich reinstecken!“ und bin panisch davongerannt, bis zu meiner Haustür. Dort habe ich mich umgedreht, natürlich kam mir niemand hinterher. Vermutlich wollte er etwas fragen oder was Nettes sagen….
Meine Uroma habe ich nie gefragt, von wem sie da eigentlich gesprochen hat.
Russland
Mein Opa hat mir und meiner Schwester abends vor dem Schlafengehen immer Geschichten erzählt, ganz oft „Und dann…“-Geschichten, die er sich einfach ausgedacht hat, bis er keine Lust mehr hatte und die Geschichte beendete mit „…und dann sind sie in den Rolandsbrunnen gefallen.“ Manchnmal hat er aber auch von der Kriegsgefangenschaft in Russland erzählt, aber eher wie eine Abenteuergeschichte, kein böses Wort verloren hat er über die Russen.
Viele Jahre später habe ich, ohne groß drüber nachzudenken, warum, Russisch gelernt, habe mich in einem Verein engagiert, der Sozialarbeit in Osteuropa organisert hat, und habe schließlich eine Zeitlang in einem Heim in St. Petersburg gearbeitet. Zu Ostern kamen da immer Freiwillige, um beim Bemalen der Ostereier zu helfen. Und da war einmal eine Frau dabei, die sich gewundert hat, dass ich hier bin. Irgendwann hat sie gesagt: „Nicht alle Deutschen sind schlecht“und hat von einer Erinnerung aus ihrer Kindheit erzählt, bei der ein Wehrmachtssoldat sie und ihre Mutter vor einem SS-Mann beschützt hat. Sie schloss ihre Erzählung mit der Frage: „Ist es nicht ein Wunder, dass wir uns hier begegnen?“ Da musste ich an meinen Opa denken und habe erst in diesem Moment verstanden, warum ich Russisch gelernt habe und nun in Russland war.
Viel später habe ich herausgefunden, dass mein Opa nur mir und meiner Schwester von seiner Zeit in Russland erzählt hat, niemandem sonst. Und rote Fahnen, die Farbe Rot überhaupt, hat er bis zum Ende seines Lebens nicht ausstehen können.